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Kojo Marfo, London

In the Studio

»Jeder kann malen, aber mir sind die Geschichten hinter den Bildern, die ich schaffe, am wichtigsten.«

Kojo Marfo ist ein in London lebender Künstler, dessen Bilder Geschichten erzählen, die universelle Fragen aufwerfen. Er kombiniert die Akan-Ikonografie, mit der er in Ghana aufgewachsen ist, mit westlichen Referenzen aus seiner Zeit in Europa und New York und schafft traumhafte Szenen, in denen genderneutrale Figuren beide Welten überwinden und für alle zugänglich sind.

Kojo, wie bist du dazu gekommen, Kunst zu machen?
Als ich als Teenager nach London kam, war das ein Wendepunkt für mich – ich besuchte viele Galerien und Museen, und da wusste ich zum ersten Mal, dass ich Kunst als Beruf ausüben wollte. Der Kunstunterricht in der Schule hatte mir schon immer Spaß gemacht, aber als ich all diese Werke in der Realität sah, hatte ich plötzlich das Gefühl, dass ich dasselbe tun könnte. Ich zog in Erwägung, in St. Martin’s zu studieren und hatte die Gelegenheit, einige Professoren zu besuchen und mit ihnen zu sprechen, aber die Hochschule war nichts für mich. Ich dachte, sie würden versuchen, mich als Künstler zu formen, und ich mag es nicht, wenn man mir vorschreibt, was ich zu tun habe. Je mehr Leute sagen: „Wir sollten dies und das tun“, desto mehr verliere ich das Gefühl dafür, was mir wichtig ist.

Woher kam dein Antrieb?
Ich passe nicht in das Schema einer geregelten Arbeitszeit. Einer der Gründe, warum ich heute Künstler bin, ist, dass ich keinen anderen Job machen könnte. In den frühen 2000er-Jahren, als ich anfing, habe ich viele Jobs im Einzelhandel und im Kundenservice angenommen, um meinen Lebensunterhalt zu bestreiten, aber in der Regel musste ich diese Jobs aufgeben, oder ich wurde gebeten, sie zu kündigen, weil ich Schwierigkeiten hatte, mich einzufügen. Ich habe ein paar Jahre in New York gelebt, und auch das war für mich ein Wendepunkt. Davor malte ich nur in Schwarz. Aber als ich mich mit Graffiti-Künstlern traf und sah, wie sie mit leuchtenden Farben arbeiteten, gewann ich das Selbstvertrauen, das Gleiche zu tun. Ich mochte es, wie sie Farbe einsetzten, um aufzufallen und in Erinnerung zu bleiben.

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Gibt es ein bestimmtes künstlerisches Anliegen, das deine Arbeit bestimmt?
Ich möchte den Menschen zeigen, dass wir alle, was auch immer wir im Leben durchmachen, mit den gleichen Fragen und Problemen konfrontiert sind. Meine Urgroßmutter war eine traditionelle Heilerin, und ich glaube, ich habe den Wunsch, Menschen zu helfen, geerbt; das prägt meine künstlerische Praxis und die Art, wie ich mein Leben lebe. Die Erkundung menschlicher Verhältnisse ist mein Hauptanliegen ebenso wie die Vermittlung meines Verständnisses von Dingen und wie ich aufgewachsen bin.

Was ist für dich das Wichtigste am Kunstschaffen?
Meine Bilder ermöglichen es mir, mehr als nur Worte zu sagen. Es gibt Dinge, die man mit Worten nicht ausdrücken kann, und ich möchte den Betrachter in die Bilder hineinziehen und ihn dazu bringen, über Dinge nachzudenken, die ihm vorher vielleicht nicht in den Sinn gekommen sind. Jeder kann malen, aber mir sind die Geschichten hinter den Bildern, die ich schaffe, am wichtigsten. Selbst jetzt fällt es mir noch schwer, mich als Künstler zu bezeichnen, weil ich nie darauf aus war, damit Geld zu verdienen. Zu Beginn meiner Karriere handelten meine Bilder von meiner Heimatstadt und meiner Erziehung, aber irgendwann habe ich mich gefragt: „Wie lange kann man noch über diese Dinge reden? Es muss sich etwas ändern.“ Dann begann sich die politische Landschaft zu verändern – Identitätspolitik wurde plötzlich zu einer großen Sache, und ich dachte: „Hey, da kann ich mitmachen.“ Ich wollte nicht Stellung beziehen, sondern beobachten und aufnehmen und dann das, was ich sah, nutzen, um Geschichten zu erzählen.

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Wie würdest du deine Kunst in ein paar einfachen Worten beschreiben?
Ich bezeichne mich selbst als Afroexpressionist und spreche bei meiner Arbeit von kultureller Hybridität. Meine Bilder beziehen sich auf verschiedene Kulturen und kombinieren europäische und afrikanische Themen. Die Figuren in meinen Bildern basieren auf den traditionellen Fruchtbarkeitspuppen der Akan. Das sind Holzpuppen ohne Arme und mit einem runden Kopf, die Frauen geschenkt werden, wenn sie das gebärfähige Alter erreichen. Die Puppen sind meine Hauptinspiration. Sie sind das, was ich aus meiner Kultur übernommen habe, und dann integriere ich sie in andere Kulturen und umgekehrt – deshalb nenne ich es kulturelle Hybridität.

Kannst du ein Beispiel dafür geben, wie du das machst?
Ein gutes Beispiel ist, dass in vielen meiner Gemälde die Figuren in Halskrausen gekleidet sind, eine Anspielung auf die europäische Hofmalerei des 16. und 17. Jahrhunderts. Ich beziehe auch Tiere und Blumen in meine Arbeit ein, um ihr Universalität zu verleihen, denn die Natur verbindet die Menschen miteinander. Die Blumen sind auch eine Anspielung auf meine Kindheit. Sie kommen mir immer in den Sinn, wenn ich male, und wenn ich sie einbeziehe, fühle ich mich mit meiner Kunst verbunden, weil sie mir so eine Reise in die Heimat ermöglichen.

Wie hat sich das Leben auf verschiedenen Kontinenten auf deine Arbeit ausgewirkt?
Meine Erfahrungen mit verschiedenen Kulturen sind das Werkzeug, mit dem ich male – sie ermöglichen es mir, die Gemeinsamkeiten der Menschheit anzusprechen. Ich fühle mich privilegiert, in Ghana, New York und London gelebt zu haben – ich habe verschiedene Perspektiven kennengelernt, die ich immer wieder vergleiche und in meiner Arbeit kombiniere. Wenn ich zwischenmenschliche Interaktionen beobachte oder sehe, wie Menschen mich behandeln, überlege ich oft, wie sich die gleiche Situation woanders ganz anders abgespielt haben könnte. Ich möchte, dass meine Bilder die Menschen dazu bringen, innezuhalten und ihre Aufmerksamkeit auf Dinge zu richten, die sie im Alltag vielleicht übersehen – es ist sehr schwierig, Dinge nicht zu sehen oder zu hören.

In einer Welt, in der die Mächtigen oft leere Versprechungen machen, möchte ich eine Geschichte erzählen, die alle miteinander verbindet und den Menschen das Gefühl gibt, weniger allein zu sein.

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In einigen deiner Bilder haben die Figuren einen Mundkorb, warum ist das so?
Ich wollte den Gedanken widerspiegeln, dass es in der Gesellschaft, in der wir heute leben, so viele Dinge gibt, die man nicht sagen darf – man hat uns einen Mundkorb verpasst. Wir haben Angst, etwas zu sagen, und so essen, trinken, schlafen wir einfach und gehen nach Hause. Ich weiß, dass ich vorsichtig sein muss mit dem, was ich sage, und ich habe das Gefühl, dass wir ständig zensiert werden. Es mag Dinge geben, die man frei sagen möchte, aber man muss sich bewusst sein, dass das, was man sagt, jemanden beleidigen könnte.

Also forderst du dieses Gefühl der Zensur in deiner Arbeit heraus?
Ja, ich denke, wenn man versucht, etwas über den menschlichen Zustand zu sagen, sollte man sich nicht zurückhalten. In einem so vielfältigen Umfeld wie London zu leben bedeutet, dass die Menschen vorsichtig sind, ihre Meinung zu sagen. Wir sind uns alle bewusst, dass das, womit die Leute heute einverstanden sind, sich morgen schon wieder ändern kann, deshalb zögern wir, uns frei zu äußern, weil wir Gefahr laufen, unsensibel oder schlecht informiert zu erscheinen. Eine Möglichkeit, die Meinung der Menschen einzuschätzen, ist die Nutzung sozialer Medien. Manchmal schreibe ich einen Beitrag zu einem aktuellen Thema und beobachte, wie die Leute darauf reagieren. Das kann ein guter Weg sein, um herauszufinden, ob die Menschen bei bestimmten Themen die gleiche Meinung haben wie man selbst.

Wie passt deine Kunst in unsere Zeit?
Ich möchte mit meiner Arbeit eine Geschichte erzählen, die in einer Zeit, in der die Gesellschaft sehr polarisiert ist, alle miteinander verbindet. Alles, was man sagt, vor allem in den sozialen Medien, könnte eine Debatte auslösen, falsch interpretiert werden oder jemanden verärgern – das ist einfach die Realität, in der wir leben. Als Kunstschaffender besteht eine der Herausforderungen für mich darin, für junge Menschen relevant zu sein und in ihre Denkweise zu passen; ich möchte auch nach meinem Tod noch relevant sein. Die Welt verändert sich, junge Menschen stellen alles infrage und bauen langsam Vorurteile und Stereotype ab. Es sind aufregende Zeiten, ich glaube, die Zukunft ist vielversprechend, und ich möchte, dass sich künftige Generationen mit meiner Arbeit identifizieren können.

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Die Figuren in deinen Bildern scheinen genderneutral zu sein. Ist das beabsichtigt?
Ja, meine Figuren sind genderneutral, weil ich möchte, dass sie die Menschheit und nicht Männer oder Frauen darstellen; es liegt also am Betrachter, sein bevorzugtes Gender zu wählen. Gender und Schönheit sind zwei Dinge, die sehr subjektiv sind und die Menschen spalten können. Ich möchte, dass meine Arbeit universell ist, damit sich jeder damit identifizieren kann. Ich versuche zwar, die Bilder so neutral wie möglich zu halten, aber ich komme aus einer matrilinearen Kultur und stelle diese Kultur in meinen Gemälden oft dar.

Wie ist die Bedeutung der Matrilinearität in diesem Zusammenhang zu verstehen?
Es bedeutet, dass wir von unseren Müttern erben und nicht von unseren Vätern. Die Frauen sind die Mächtigen, sie haben den Wohlstand und sorgen für das Essen auf dem Tisch. Alleinerziehende Mütter werden in der westlichen Gesellschaft oft zu Unrecht als verletzliche Frauen bezeichnet, die Hilfe brauchen. Aber dort, wo ich herkomme, gibt es das Konzept „alleinerziehende Mutter“ nicht. Es ist kein Konzept in unserer Kultur, und ich fühle mich privilegiert, beide Welten erlebt zu haben.

Warum malst du Figuren mit Hautverfärbungen im Gesicht?
Ich malte einen Freund, der Vitiligo hat, und entdeckte dabei eine neue Art, zu malen, die mich nicht mehr losließ. Das Ergebnis gefiel mir so gut, dass ich beschloss, die Technik zu wiederholen und sie zu meinem Markenzeichen zu machen; sie ist so etwas wie eine Visitenkarte.

Gibt es ein Vorurteil oder ein Missverständnis bezüglich deiner Kunst, das sich hartnäckig hält?
Meine Arbeit befasst sich mit sozialen Themen, daher habe ich mir nicht vorgenommen, schöne Kunst zu machen, aber ich denke, dass die Leute manchmal von den hübschen Blumen und Tieren abgelenkt werden können. Mir ist es eigentlich egal, was die Leute über meine Arbeit denken, denn ich weiß, was ich tue, und meine Absicht ist es, etwas zu schaffen, das zu Gesprächen anregt. Ich habe keine klassische Ausbildung, daher ist meine Arbeit nicht so wie die von jemandem, der Malerei an einer Hochschule oder Universität studiert hat, aber darum geht es mir nicht. Wenn die Leute Unvollkommenheiten in meiner Arbeit entdecken, dann ist das Teil meiner Kreation. Ich schaffe Dinge intuitiv mit der Absicht, Menschen zum Reden zu bringen.

Hast du persönliche Referenzen in der Kunstgeschichte, andere zeitgenössische Künstler, deren Arbeit du schätzt, oder andere Menschen, die dich inspirieren?
Picasso ist meine größte Inspiration, er hat die Kunst verändert und sie für jeden zugänglich gemacht. Wenn ich seine Werke nicht gesehen hätte, wäre ich nicht der, der ich heute bin – auch Fernand Léger und Wifredo Lam. Und die Komposition des neoklassischen Künstlers Jean-Auguste-Dominique Ingres hat mich stark beeinflusst. Die von ihm geschaffenen Kulissen, die Familienporträts und Details wie die Halskrausen, die die Menschen in seinen Bildern tragen, tauchen in meiner Arbeit auf. Auch die Art und Weise, wie seine Motive positioniert sind, und der Aufbau seiner Gemälde dienen mir als Referenz.

Und wie war das, als du aufgewachsen bist?
Als ich in Ghana aufwuchs, war ich von Bildhauern und Schnitzern umgeben, die eher Kunsthandwerker als Künstler waren und Bilder schufen, um sie an Touristen zu verkaufen. Sie haben mich sehr inspiriert, aber es gibt keine Person, die ich als Haupteinfluss ausmachen könnte. Ich sah ihnen gerne zu, und die Dinge, die sie geschaffen haben, waren sehr schön – es waren erstaunliche Schnitzereien, und sogar einige der Gemälde waren wunderschön, aber es gab keine Literatur, die ich hätte lesen können, um zu verstehen, was sie gemacht haben. Ich nutze sie also eher als Inspiration und weniger als formale Referenz.

Kannst du deine Gedanken über zeitgenössische schwarze Kunst und afrikanische Kunst mit uns teilen?
Ich denke, das Problem ist, dass Menschen, wenn sie den Begriff afrikanische Kunst oder schwarze Kunst hören, immer noch an veraltete Stereotype wie Frauen, die Körbe auf dem Kopf tragen, oder an Masken denken, aber die Dinge haben sich geändert. Eine neue Generation von Künstlern fordert diese Darstellungen zurück, um sie aus ihrer eigenen Perspektive neu zu gestalten und überholte Ansichten infrage zu stellen. Leider liegt noch ein langer Weg vor uns, aber ich bin hoffnungsvoll, denn wir bewegen uns weg von den Darstellungen des Kampfes hin zu denen der Ermächtigung und des Stolzes. Es gibt zum Beispiel so viele schöne Dinge in Ghana, die Menschen außerhalb meines Landes vielleicht nicht kennen, und ich hoffe, dass ich diese in meiner Arbeit zeigen kann.

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Credits: JD Malat Gallery, London

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Credits: JD Malat Gallery, London

Hast du einen bestimmten Ablauf, an den du dich beim Malen hältst?
Ich habe nicht immer einen Plan, wenn ich ein Bild beginne. Normalerweise setze ich mich hin und starre die Leinwand an der Wand an. Ich arbeite am liebsten in den frühen Morgenstunden und kann dann die ganze Nacht dort sitzen und nachdenken. Vielleicht nehme ich einen Pinsel und eine Farbe, um einen Anfang zu machen, indem ich herumspiele und intuitiv male, aber dann gehe ich ins Bett und lasse es eine Weile ruhen. Wenn ich Glück habe, entsteht ein Bild, wenn ich wieder zur Leinwand zurückkehre. Sobald ich das Bild in meinem Kopf habe, die genauen Farben und die Komposition, höre ich nicht mehr auf zu malen, bis es auf der Leinwand ist. Manchmal komme ich an einen Punkt, an dem ich merke, dass die Farbe und die Komposition nicht funktionieren, und wenn es mir nicht gefällt, übermale ich es und fange von vorne an – das mache ich ziemlich oft. Ich fühle mich mit den Leinwänden selbst verbunden und übermale lieber, als mit einer neuen zu beginnen.

Bleibst du als Künstler auf die Malerei beschränkt oder möchtest du mit anderen Medien experimentieren?
Ich möchte die Bildhauerei ausprobieren und plane für das nächste Jahr eine Ausstellung mit Skulpturen, die wahrscheinlich aus Ton und Bronze bestehen werden. Die Figuren werden denen in meinen Gemälden ähnlich sein, aber eben in skulpturaler Form.

Du hast eine starke Präsenz auf Instagram. Glaubst du, dass es für Künstler heutzutage wichtig ist, eine Präsenz und Persönlichkeit in den sozialen Medien zu haben?
Ich glaube, ich habe 2012 angefangen, Instagram zu nutzen. Davor hatte ich Facebook, aber ich habe es nicht wirklich kapiert, ich habe es immer nur benutzt, um Künstler zu recherchieren und mir Galerien anzusehen. Aber Instagram hat mich sofort begeistert, weil viele Straßenkünstler dort ihre Arbeiten zeigen. Anfangs habe ich es nur benutzt, um alberne Fotos zu posten, aber dann habe ich mich 2016 entschlossen, es professionell zu machen. Anfangs verstand ich es nicht wirklich, ich kam mir albern vor, mit Teenagern um Likes und Follower zu konkurrieren. Aber jetzt weiß ich, was ich tue, und habe mir dort eine Persönlichkeit geschaffen, die ein bisschen wie ein Selbsthilfe-Guru wirkt. Es mag klischeehaft klingen, aber ich möchte wirklich glückliche, harmonische Botschaften verbreiten, und es ist schön, mit Menschen in Kontakt zu kommen, die meine Arbeit mögen.

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Interview: Frederica Miller
Fotos: Liz Seabrook

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