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AES+F, Moskau

In the Studio

»Wir wollen mit dem Komfort des Kinos brechen, um eine bewusstere Erfahrung zu ermöglichen.«

AES+F gilt als eine der erfolgreichsten und bekanntesten russischen Kunstgruppen. Trotz der Verwendung verschiedener Medien von der Installation bis zur Performance ist die Gruppe vor allem für ihre überwältigenden Multi-Screen-Videoinstallationen von rätselhaft narrativem Charakter bekannt. Hinter dem Glanz klarer und scharfer Bilder verbirgt sich eine Untersuchung von Werten und Konflikten der modernen globalen Kultur.

Könnt ihr uns zu Beginn sagen, was hinter dem Namen eurer Gruppe AES+F steht?
E: Wir haben 1987 mit unserer Zusammenarbeit begonnen. Damals waren es nur Tatiana (Arzamasova), Evgeny (Svyatsky) und ich (Lev Evzovich). Später kamen wir auf AES als Abkürzung für unsere Nachnamen, als wir feststellten, dass die Leute viel Mühe hatten, unsere Namen richtig zu schreiben. Nachdem Vladimir (Fridkes) 1995 der Gruppe beigetreten ist, wurde aus uns AES+F.

S: Es gab nie den einen Moment, in dem wir beschlossen haben, von morgen an gemeinsam arbeiten zu wollen. Es geschah organisch. Es gab einen interessanten Auftrag von einem Theater, der Lev und Tatiana angeboten wurde. Sie brauchten jemanden für das Team, der sich mit Buchillustration und Design auskannte. Also versuchten wir, zusammenzuarbeiten. Wir mochten, wie es lief, und machten einfach weiter.

Bevor sich dieses Kollektiv formiert hat, habt ihr als Einzelkünstler gearbeitet. Wie ihr uns vor unserem Treffen gesagt hast, seid ihr völlig verschiedene Charaktere. Wie sind eure unterschiedlichen Persönlichkeiten und künstlerischen Interessen miteinander verknüpft?
E: Ich denke, wir sind uns in unseren künstlerischen Interessen und Vorlieben irgendwie ähnlich. Aber wir sind psychologisch verschieden und haben unterschiedliche Fähigkeiten. Einer von uns ist besser im Zeichnen, der andere ist besser in der Fotografie etc. Wir stehen nicht im Wettbewerb zueinander. Stattdessen gibt es …

S: … Synergie, eine Synthese aus unseren Fähigkeiten und der Kombination von Ideen.

Wenn Leute Interviews mit euch lesen, können sie normalerweise nicht erkennen, wer von euch die Fragen beantwortet. Es scheint, als ob ihr mit einer AES+F-Stimme sprecht.
E: Das stimmt, besonders bei textbasierten Interviews. Wir ernennen keinen Sprecher und haben keine Hierarchie, wie sie z. B. im Film existiert, auch wenn unsere Produktion ein wenig ähnlich ist. Im Film gibt es eine bestimmte Hierarchie mit einem Regisseur, einem Produzenten, einem Operator, einem Drehbuchautor usw. Wir unterscheiden nicht absichtlich. Es ist sowohl eine Strategie als auch gewissermaßen eine göttliche Intuition, wenn wir alle gleichzeitig die gleichen Gedanken haben.

Ihr seid sehr erfolgreich geworden mit Ausstellungen auf der ganzen Welt und Teilnahmen unter anderem an der Biennale in Venedig und an der Manifesta. Könnt ihr über einige Meilensteine auf eurem Weg zu solch einer internationalen Anerkennung sprechen?
E: Es gab zwei Momente. Der entscheidende war das Islamische Projekt im Jahr 1996. Es fand in der Öffentlichkeit große Beachtung und sorgte für Kontroversen in den internationalen Medien.

A: Das Projekt sollte recht provokant und politisch inkorrekt in Bezug auf den Islam sein und spiegelte die westliche Islamophobie wider. Wir haben digital manipulierte Bilder von berühmten Sehenswürdigkeiten und Reisezielen erstellt, die so aussehen, als wären sie von einer radikalen Form der islamischen Kultur übernommen worden.

S: Als „Reisebüro in die Zukunft“ wurde das Islamische Projekt auf der Hauptverkehrsader in Graz beim Steirischen Herbst vorgestellt.  

E: Es verursachte eine Menge Kontroversen auf der ganzen Welt, aber mit den Ereignissen 9/11 wurden wir irgendwie als „Propheten“ gefeiert. So was passiert nicht oft, aber manchmal schon.

S: Es war eine in gewissem Sinne rein künstlerische Intuition, die sich bestätigte, als die Realität das Kunstwerk einholte.

E: Und der zweite Erfolg war auf der Biennale in Venedig zehn Jahre später, 2007, als wir Russland im Russischen Pavillon mit Last Riot vertraten, das die Ästhetik eines neuen Arbeitszyklus einführte. Im Rückblick war es eines der ersten Projekte, das die Post-Internet-Kunst und alle damit verbundenen Fragen definierte. Danach hatten wir eine Reihe erfolgreicher Projekte, aber die genannten waren die wichtigsten Impulse, die uns in unserer Karriere vorangebracht und uns international einen gewissen Ruf beschert haben. In beiden Fällen geschah es sehr unerwartet

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Was könnt ihr uns über euer Projekt „Mare Mediterraneum“ erzählen, das 2018 auf der Manifesta 12 in Palermo gezeigt wurde?
E: Mare Mediterraneum beschäftigt sich mit dem modernen Europa oder der westlichen Welt, Migration und kultureller Osmose, um dem Globalismus oder der Verwestlichung der Welt entgegenzuwirken. In diesem Szenario findet man McDonald’s nicht mehr überall, aber früher, als peripher geltende Kulturen werden in den Westen gebracht. Solche komplexen Prozesse und dieses Gefühl der Paranoia und Angst, das um uns herum entsteht, sind Themen, mit denen wir im Allgemeinen gerne arbeiten.

S: Die Geschichte Siziliens ist eng mit dem alten Prozess der menschlichen Migration verbunden, der nie aufgehört hat. Das Mittelmeer war schon immer eine der Hauptachsen der Bewegung großer Gruppen von Menschen nach oder von Europa. Jetzt erleben wir nur noch ein weiteres Kapitel davon. Deshalb gibt diese verblüffende Form von galantem, elegantem, erotischem Porzellan, das von der Fragilität dieser zivilisatorischen Prozesse und über einige andere Aspekte spricht, dem Betrachter, der an bestimmte Arten von Kunstwerken und den Diskurs zu diesem Thema gewöhnt ist, die Chance, diese aus einer anderen Perspektive zu sehen.

In Palermo gibt es auch ein neues Projekt von euch – die Oper „Turandot“ im Teatro Massimo.
E: Wir haben die berühmte Oper von Giacomo Puccini in Zusammenarbeit mit dem italienischen Regisseur Fabio Cherstich neu interpretiert. Unsere Version spielt im Peking von 2070: in der Hauptstadt eines globalen Imperiums. Wir haben eine utopische Stadt der Architekturbionik geschaffen, in der die grausame Prinzessin Turandot regiert.

A: Wir stellen die Idee des Techno-Feminismus mit einem totalitären Touch vor.

E: Das Projekt beschäftigt sich mit einigen Themen, die für unsere Arbeit von zentraler Bedeutung sind: Zukunftskonzepte, Feminismus, Post-Feminismus und Fake News.

Verfolgt ihr eigentlich auch andere Projekte jeweils einzeln? Oder verbraucht AES+F die ganze Zeit?
S: Wir arbeiten nur als AES+F. Unsere Praxis ist sehr umfangreich und erfordert viel Energie von jedem Einzelnen.

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Mit euren rätselhaften Videoarbeiten habt ihr einen ganz eigenen filmografischen Stil geschaffen. Könnt ihr mehr darüber erzählen, wie eine neue Videoarbeit entsteht?
E: Bis zum Moment der Dreharbeiten gibt es kein Drehbuch, aber wir haben ein Konzept und Ideen für bestimmte Episoden. Wir verwenden Storyboards oder Moodboards, die Einblicke in die Hauptszenen geben. Meistens machen wir Textnotizen statt Skizzen. Einige Aspekte ähneln dem Film und der Werbung, wie das Casting, das sehr wichtig ist. Das letzte, zum Beispiel, haben wir über Facebook gemacht. Ein weiterer wichtiger Aspekt, der unseren Prozess vom Filmemachen unterscheidet, ist die kurze Drehzeit, die in einem gemieteten Pavillon nur ein paar Wochen in Anspruch nimmt. Manchmal verwenden wir Chroma-Keying (eine Produktionstechnik zum Zusammensetzen von Bildern oder Videostreams, basierend auf Farbtönen, auch bekannt als Bluecreen- oder Greenscreen-Technik).

Wie können wir uns die tatsächliche Produktion und Interaktion am Set vorstellen?
E: Wir drehen die menschlichen Charaktere oft einzeln und bearbeiten und montieren das Material erst später in der Postproduktion. Es ist typisch für unsere menschlichen Protagonisten, sich nur im virtuellen Raum zu „treffen“, wo sie auch auf virtuelle Charaktere stoßen können. Deshalb kann die Postproduktion – in der wir das Einzelbild eigentlich machen, im Gegensatz zum konventionellen Filmemachen, bei dem das Einzelbild typischerweise am Set gemacht wird – bis zu einem Jahr dauern. Bei Großprojekten kann sie sogar bis zu zwei Jahre beanspruchen.

In euren Videoinstallationen arbeitet ihr mit extrem breiten Bildschirmen, bis zu 20 Metern. Welche dramaturgische Idee verbirgt sich dahinter?
S: Es ist uns sehr wichtig, den Betrachter in einen Zustand des vollständigen Eintauchens zu versetzen. Den Betrachter mit mehr zu überwältigen, als er verarbeiten kann, ist eine bewusste Entscheidung, die einen solchen Zustand hervorruft. Außerdem ist das Teil unserer künstlerischen Sprache. Wir hatten diesen Ansatz in Last Riot zum ersten Mal angewandt und untersuchen seitdem dessen Auswirkungen.

F: Der Betrachter muss sich ein wenig unbehaglich fühlen, nicht in dem Sinne, dass er sich im Stehen oder Sitzen unwohl fühlen soll, sondern weil er wachsam sein muss und gezwungen ist, sich zu bewegen. Wir wollen den Komfort vermeiden, der im Kino herrscht, wo wir Popcorn essen und auf einen Bildschirm schauen. Stattdessen forcieren wir die ständige Teilnahme und Bewegung, was zu einer bewussteren Erfahrung führt.

A: Die „Unannehmlichkeiten“ beim Verfolgen der Handlung berühren den Betrachter unweigerlich auf peinigende Weise und können auch ein Gefühl von „schuldiger Lust“ hervorrufen.

S: Das kann mit dem wirklichen Leben verglichen werden, wo man nie in der Lage ist, jede Information um sich herum aufzunehmen und zu verarbeiten. Das weckt den Wunsch, unsere Videoarbeiten immer wieder zu sehen, denn jedes Mal entdeckst du vielleicht etwas Neues.

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Ihr habt erwähnt, dass die eigentlichen Szenen erst in der Postproduktion entstehen, was eure Arbeit weiter von der herkömmlichen filmischen Praxis unterscheidet.
S: Technisch gesehen, handelt es sich nicht um ein Video, sondern um eine Folge von Einzelaufnahmen. Jede Szene wird animiert und später in der Postproduktion kombiniert, was uns viel Flexibilität und Variabilität ermöglicht. Danach folgen die Wiedergabe der Schatten, die Farbkorrektur und die Erstellung des zusammenhängenden Rahmens.

E: Unser Ansatz basiert auf der Tatsache, dass eine Fotokamera eine höhere Auflösung hat als eine Videokamera. Deshalb kann man aus einer animierten Fotografie eine Nahaufnahme oder ein Porträt aus einer größeren Szene erstellen. Unsere Ästhetik ist völlig anders und vermeidet die Luftperspektive, die durch verschwommene Objekte den Eindruck von Tiefe und Distanz erzeugt. Objekte im Hintergrund haben die gleiche Schärfe wie der Vordergrund. Es ist uns wichtig, dass die Ästhetik die Eigenschaften des Digitalen, des Künstlichen behält.

F: Wir haben bewusst keine Storyboards wie im Film, mit denen ein Regisseur ein Bild erstellen würde, damit wir am Set improvisieren können. Wir können uns entscheiden, zwei Schauspieler in einer Szene zusammenzustellen, die wir beim Casting überhaupt nicht nebeneinander gesehen hatten. Die gleichen Möglichkeiten ergeben sich in der Postproduktion, wenn wir den Schnitt vornehmen. Das gibt uns viel kreative Freiheit und Spielraum.

In euren Videoerzählungen trifft man auf viele Fabelwesen in mythischen Umgebungen, die oft mit religiöser Symbolik aufgeladen sind, wie zum Beispiel in „Inverso Mundus“. Könnt ihr erklären, was wir tatsächlich sehen, wie wir lesen oder entschlüsseln können, was passiert?
E: Vor Kurzem haben wir mit (dem französischen Kunsthistoriker) Jean-Hubert Martin in unserem Studio gesprochen: Er hat gesagt, dass für ihn jede Kunst von Natur aus religiös ist. Diese Idee, die offensichtlich erscheint, ist in der zeitgenössischen Kunstwelt nicht verbreitet. Deshalb transformiert sich dieser von dir erwähnte religiöse Subtext in eine offene Botschaft seitens des Betrachters oder der Betrachterin, in seine oder ihre eigenen Vorstellungen vom Heiligen oder Religiösen oder vielleicht sogar in etwas Antireligiöses. Inverso Mundus ist eher ein mittelalterlicher Karneval, der auf zeitgenössischem Material basiert. Aber wie jeder Karneval beinhaltet er eine Umkehrung der Bedeutungen, auch der religiösen, wenn sie repressiv werden.
In Feast of Trimalchio, einem weiteren unserer Werke, verweisen wir auf biblische Szenen wie die Kreuzigung als Gegenüberstellung mit zeitgenössischen Konzepten des narzisstischen Genusses oder Konsums, der die Rolle einer Quasi-Religion übernimmt. Ich würde also sagen, dass wir uns wahrscheinlich mehr mit zeitgenössischen Quasi-Religionen oder weltlichen Religionen befassen.

S: Dieser allegorische Aspekt ist auch in unseren anderen Werken present …

A: … aber ohne Didaktik. Wir manipulieren den Betrachter nicht wirklich. Um ehrlich zu sein, es gibt Dinge in der Welt, die uns verwirren oder zweifeln lassen, Fragen aufwerfen, auf die es keine Antworten gibt. Wir nehmen dies her und zeigen es dem Zuschauer, aber auch uns selbst. Die Interpretation der Szenen unterliegt immer dem Vorwissen und den persönlichen Erfahrungen des Betrachters.

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Gibt es ein häufiges Missverständnis von eurer Kunst oder auch Kritik, die euch zu Ohren gekommen ist und die ihr korrigieren möchtet?
A: Ich kann der Meinung über unsere Arbeit, die sich Anfang der 2000er Jahre gebildet hat, dass es sich um Glamour handelt, immer noch nicht zustimmen. Das ist nicht das, was wir tun. Es gibt eine visuelle Realität unserer Existenz. Es strömt aus allem Leben, aus dem virtuellen Raum. Es ist unmöglich, diese Realität nicht zu berücksichtigen. Als Interpretation unserer Ästhetik ist Glamour kein geeignetes Wort.

Einige Leute weinten, während sie „The Feast of Trimalchio“ sahen. Habt ihr diese Art von Kraft, die von einem Kunstwerk ausgeübt wird, schon einmal persönlich erlebt?
E: Nein, aber ich bin tief beeindruckt von der Barockmalerei, von Caravaggio.

F: Als ich 18 Jahre alt war, besuchte ich die Tretjakow-Galerie (ein Kunstmuseum in Moskau) und stand eine halbe Stunde lang vor einigen Gemälden, ohne von ihnen wegzukommen. Valentin Serov zum Beispiel hatte diese Wirkung auf mich. Als ich mich ernsthaft mit Fotografie beschäftigte, begann sie mich in gleicher Weise zu berühren. Ich erinnere mich, als ich vom Militärdienst nach Moskau zurückgekehrt bin und die Ausstellung American Photo besuchte, wo ich das letzte Porträt von Igor Strawinsky von Richard Avedon sah: Es zeigte die Augen eines Mannes, der am Rande des Lebens steht und dessen Blick auf sich selbst gerichtet ist. Ich muss etwa vierzig Minuten lang vor diesem Foto gestanden haben.

Welche Arbeitsbedingungen findet ihr in Moskau vor, so dass ihr den Mittelpunkt eurer künstlerischen Tätigkeit hier behalten möchtet?
E: Bis 2014 fühlte es sich natürlich an, unsere Basis in Moskau zu haben, denn wir sind hier geboren und aufgewachsen.

S: Wir haben jedoch Erfahrung in der Arbeit außerhalb Moskaus, zum Beispiel bei Dreharbeiten in Kairo und New York. Wir haben Skulpturen in Finnland, Spanien und Südkorea hergestellt. Derzeit arbeiten wir daran, unser Studio nach Berlin zu verlegen.

Fot 2 1 08 @300

AES+F, The Feast of Trimalchio, Still 2-1-08, 2010, Still vom 1-Kanal Video, InkJet print auf Fine Art Barytpapier, 32 x 57 cm

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AES+F, Inverso Mundus, Still 1-02, 2015, Still vom 1-Kanal Video, InkJet print auf FineArt Barytpapier, 55,6 x 80 cm

Lr2 The Carrousel A4 300

AES+F, Last Riot 2, The Carousel, 2007, Digitalcollage, C-print

Turandot Still Paradise A4@300Dpi

AES+F, Turandot. Paradise, 2018, Videostill

AES+F, New Liberty, 1996, Digitalcollage, C-print

AES+F, Mare Mediterraneum #1, 2018, handbemaltes Porzellan, 35,3 x 39 x 23 cm

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