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Jeremy Shaw, Berlin

In the Studio

»Ich liebe es, wenn mich etwas überrascht.«

Der kanadische Künstler Jeremy Shaw nutzt die Ästhetik des Dokumentarfilms und die Sprache von Alternativkulturen, um immersive audiovisuelle Erzählungen und objektbasierte Installationen zu schaffen. In seinem sonnenverwöhnten Berliner Atelier werden Besucher*innen mit Votivkerzen, found-image-Material von Hardcore-Konzerten und dreifachen Kleinschen Flaschen empfangen – Bruchteile einer genreübergreifenden Praxis, in der Nostalgie und Dystopie verschmelzen, um konstruierte phänomenologische Reaktionen hervorzurufen.

Was für ein schönes Atelier, Jeremy! Danke für die Einladung. Arbeitest Du schon lange in diesem Raum?
Seit ungefähr zweieinhalb Jahren.

Gibt es etwas, das sich immer noch neu oder besonders daran anfühlt?
Auf jeden Fall das Licht. Und die Möglichkeit, mehrere Dinge gleichzeitig an die Wand zu hängen. In meinen vorherigen Ateliers konnte ich nie Dinge aufhängen. Sie waren zu klein und hatten oft Teppich an den Wänden, um den Schall zu dämpfen. Eines hatte nicht einmal Fenster. Daher fühlt es sich toll an, überall Dinge aufhängen und wirklich in meine eigene Welt eintauchen zu können, es ist sehr produktiv.

Gibt es Gegenstände, die Du gerne im Blickfeld oder griffbereit hast?
Oft sind es nur Zeitungs- oder Zeitschriftenausschnitte, oder einige dieser found-images, mit denen ich arbeite. Wir sind ständig dabei, Dinge zusammenzustellen, im Studio zu platzieren und aufzuhängen, aber mir fällt kein bestimmtes Symbol oder irgendetwas anderes ein.

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Woran arbeitest Du gerade?
Ich arbeite gerade an einer Ausstellung für die Wiener Secession. Es wird ein großformatiges Triptychon dieser Buntglas-Fenster geben, die in eine simulierte Wand eingelassen sind, und eine dreifache Kleinsche Flaschen-Skulptur mit verdampften DMT-Rückständen in ihren Kammern. Und dann gibt es noch ein drittes Stück, das einem großen katholischen Votivständer ähnelt, weshalb man überall rote Gläser sieht. Es ist ein Kerzenständer mit 247 LED-Kerzen, der recht harmlos aussieht und sich dann in etwas anderes verwandelt; als einfacher Kerzenständer aber ist er sehr glaubwürdig.

Wie verwandelt sich das Stück?
Zunächst flackern nur wenige Kerzen ganz beliebig, aber daraus entwickelt sich langsam eine Wurmloch-Wirbel-Animation, die das gesamte Raster einnimmt. Der Klang wird synchron zur Animation aktiviert, und die Skulptur entwickelt sich zu einer eigenständigen, hypnotischen Einheit. Sie wird zu einem kinetischen Werk.

Religion und Subversion tauchen in Deinen Arbeiten oft auf. Sind diese Stücke Teil einer größeren Auseinandersetzung?
Ja. Dieser sehr explizite Bezug auf religiöse Objekte mag ein neuer Ansatz sein, aber er gehört zu einem Thema, mit dem ich mich schon immer beschäftigt habe.

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Wenn Du dieses Gesamtthema mit einfachen Worten beschreiben müsstest, wie würdest Du es beschreiben?
Ich denke, es läuft auf Glauben und Glaubenssysteme hinaus, und wie diese unsere Realität verändern können. Es ist ein sehr weites Feld, das viele unterschiedliche Bereiche umfasst, die auf den ersten Blick vielleicht nicht so eng miteinander verbunden erscheinen: von Spiritualität und Hedonismus bis hin zu Wissenschaft und Technologie. Es geht auch vor allem um den möglichst inneren Wunsch des Menschen, transzendente Erfahrungen zu machen, und um die unzähligen subjektiven Interpretationen davon. 

Was bestimmt die Wahl des Mediums?
Das ist von Fall zu Fall verschieden. Was die Idee erfordert, bestimmt, wie sie letztendlich zur Erscheinung kommt. Die Bewegtbildarbeiten sind wirklich umfangreiche Projekte, bei denen die Kombination von Ideen und Konzepten chaotischer und alchemistischer ist. Hier verwende ich oft die Sprache des altmodischen Dokumentarfilms, des [Cinéma]Vérité usw., um ein extrem breites Spektrum an Themen und Elementen in prägnanten, autonomen Werken zu vereinen. Wenn ich Objekte erschaffe, ist es eher so, als würde ich bestimmte Ideen aus den Bewegtbildarbeiten extrahieren und sie in eine physische Form bringen. Die beiden liegen jedoch nie weit auseinander, auch wenn die Handschrift nicht immer ganz übereinstimmt.

Wie kam es, dass Du dich für Kunst interessiertest, als Mittel um diese Welten zu erkunden?
Meine Eltern interessierten sich beide nicht für Kunst, aber ich hatte einen Babysitter, einen sehr engen Freund unserer Familie, der so um die zehn Jahre älter war als ich und mein Interesse definitiv weckte. Er war ein sehr anachronistischer Typ. Als Teenager besaß er eine alte Radierpresse und war total begeistert von Louis Armstrong und allen möglichen antiquierten Dingen, wie Taschenuhren und Tabakpfeifen, wirklich aus der Zeit gefallen für einen Jungen in den 80ern. Er arbeitete in diesem klassischen Illustrationsstil, wie The Wind in the Willows [dt. Der Wind in den Weiden], sehr niedlich, kindlich, magisch. Er gestaltete fantastische Miniaturen und Gemälde für uns, wenn wir zusammen waren. Er ließ mich ständig zeichnen und malen. Heute ist er ein sehr bekannter Künstler und Autor von Kindergeschichten und Aquarelle – wunderschöne Illustrationen. Sein Name ist Charles Van Sandwyk.

Wie alt warst Du damals?
Ich war wahrscheinlich vier oder fünf, als wir Charles kennenlernten. Er wohnte gleich bei uns in der Straße und war dann eigentlich die ganze Zeit da. Ich würde also definitiv sagen, dass er der Grund dafür war, dass mir klar wurde, dass es möglich ist, so zu sein. Als Künstler zu leben und sein eigenes Ding zu machen, in einer eigenen Welt. So bin ich dazu gekommen. Er war eine große Inspiration. Natürlich gab es danach viele verschiedene Phasen.

Erinnerst Du dich an die erste?
Künstlerisch gesehen war Graffiti das erste Genre, dem ich mich als Teenager verschrieben habe und mit dem ich mich intensiv beschäftigt habe. Ich bin außerdem mit Skateboarding aufgewachsen, also haben wir oft gefilmt, kleine Videos gedreht usw. In diesen Welten gab es immer so viel kreative Energie.

Gibt es etwas aus der Graffiti- und Skate-Phase, an dem Du noch festhältst oder heimlich praktizierst?
Ja, sicher. Ich habe gerade neulich mit jemandem darüber gesprochen. Ich glaube, wenn man sich intensiv genug mit Graffiti und Skateboarding beschäftigt, bleiben einem Dinge für immer im Gedächtnis, auch lange nachdem man damit aufgehört hat. Egal wo ich bin, halte ich zum Beispiel ständig Ausschau nach Skatespots in meiner Umgebung. Ich schaue mir ständig Architektur an, um zu sehen, ob sie skatebar ist. Und ich entdecke Graffiti überall, wo ich hingehe. Selbst wenn es irgendwo in den kleinsten Türrahmen geritzt ist, fällt es mir auf.

Fast wie eine Art des Sehens.
Ja, des Schauens. Oder des Überwachens. Und des Anpassens. Beides sind sehr anpassungsfähige Akte.

Subkulturen scheinen eine wichtige Rolle in Deiner Arbeit zu spielen. Sowohl echte als auch fiktive Subkulturen tauchen oft in Deinen Filmen auf, darunter Quantification Trilogy und später Phase Shifting Index. Was macht Subkulturen zu einem spannenden Thema für Deine Arbeit?
Der Begriff Subkultur, der heute als Begriff ziemlich veraltet erscheint, war schon früh in meiner Arbeit sehr wichtig, lange vor der Quantification Trilogy, da mich diese Bereiche in meiner Jugend, nach meinem Austritt aus der organisierten Religion stark angezogen haben. Ich suchte immer noch diese Gemeinschaft, diese Verbindung zu einem gemeinsamen Glauben, die Rituale, in verschiedensten Formen. Von Skateboarding über Rave bis hin zu Hardcore oder was auch immer ich zu diesem Zeitpunkt in meinem Leben mochte –  ich habe das Gefühl, ich war immer auf der Suche nach dieser Verbindung. Als ich begann, mich ernsthafter mit Kunst zu beschäftigen, setzte sich meine Arbeit aus eigenen Erfahrungen rund um diese Bereiche zusammen. Ich wollte, dass sie bei denjenigen, die Teil dieser Szenen waren, genauso Anklang finden wie bei Menschen, die sich für zeitgenössische Kunst interessieren. Und so wuchs mein Interesse an Glaubenssystemen; sie zu erforschen, wie sie sich entwickelten und was das Bedürfnis nach Glauben antreibt. Das führte schließlich dazu, dass ich meine eigenen Gruppen, Alternativkulturen, mit fantastischeren, Science-Fiction-artigen Aktivitäten und Glaubenssystemen fabrizierte.

Sowohl Deine Videoinstallationen als auch die objektbasierten Werke, wie die Kerzenständer, die Du uns gezeigt hast, spielen mit der Manipulation vertrauter Objekte und erzeugen so eine gewisse Dissonanz oder einen Bruch mit der Realität.
Ja, ich arbeite oft mit veralteten Formen oder Formaten; Formen die wir kennen und denen wir grundsätzlich vertrauen, Dokumentarfilme sind eine davon. Wenn man etwas sieht, das wie ein Dokumentarfilm auf 16-mm oder VHS erscheint, stellt man dessen Glaubwürdigkeit selten in Frage. Man akzeptiert in der Regel einfach, dass es faktisch ist, dass es passiert ist und aus objektiver Sicht erzählt wurde. Ich finde, mit dieser Annahme geht ein großes Manipulationspotenzial einher. Ähnlich ist es mit diesen religiösen Gegenständen. Sie sind allgegenwärtig, wir sind mit ihnen vertraut, daher erwartet man nicht, dass sie anders funktionieren als bisher.

Wie bist Du zu dieser Herangehensweise an den Betrachter gekommen?
Ich liebe es, wenn mich etwas überrascht. Ich lasse mich gerne von Dingen – Filmen, Liedern, Kunstwerken – täuschen oder hinters Licht führen. Genau das versuche ich mit meinen Werken und mit dem Publikum zu erreichen.

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Könntest Du etwas mehr über Deine Beziehung zum Publikum verraten? Einige Deiner Videoinstallationen treiben den Überraschungseffekt auf die Spitze und erzeugen unerwartete Risse in der Wahrnehmung des Publikums.
Ja, meine Beziehung zum Publikum hat sich im Laufe der Jahre stark verändert. Ich interessiere mich zunehmend dafür, dem Betrachter seine Autonomie zu nehmen und ihn plötzlich in das Werk einzubeziehen. Und dies gezielt zu gestalten. Beispielsweise wird bei Phase Shifting Index eine Art Ouroboros-Effekt angestrebt: Man beobachtet Menschen in Trance und ist dabei völlig autonom, doch dann wird diese Autonomie aufgehoben und verschiedene Formen von Manipulation versuchen, einen selber in eine Art Trance zu versetzen.

Phase Shifting Index ist derzeit im Hamburger Bahnhof zu sehen und enthält viele der Elemente, die wir angesprochen haben: Videoinstallation, Ton, Choreografie, Subkultur, kathartisches Verhalten. Wie findet dieser Übergang vom Zeugen einer Trance zum Erleben einer Trance statt?
Es handelt sich um eine große Rauminstallation, in der sieben eigenständige Filme gleichzeitig laufen. Jeder von ihnen scheint aus einer anderen Epoche des 20. Jahrhunderts zu stammen, aus den späten 50ern bis Mitte der 90er. Die einzige Verbindung besteht darin, dass jede Gruppe denselben Erzähler hat, der ihre momentbasierten Glaubenssysteme und ihr Ziel, die Realität physisch zu verändern, beschreibt. Er macht auch deutlich, dass die Filme 100–300 Jahre in der Zukunft spielen. Man kann jeden Film einzeln von einer großen Bank davor mit stark gerichtetem Ton ansehen oder sich hinten auf eine massive, mit Teppich ausgelegte Plattform setzen und ihn als eine Art Tableau betrachten. Der Zuschauer kann selber entscheiden, wie er all diese unterschiedlichen Erzählungen erlebt. Doch irgendwann geraten die Filme aus den Fugen, und die Protagonisten geraten in eine Art ekstatischen Wahnsinn. Ein Surround-Sound-Element erfasst den gesamten Raum und steigert sich immer mehr, bis schließlich alle Filme in einer komplett synchronisierten Choreografie landen. All diese unterschiedlichen Gruppen reihen sich über Zeit und Raum hinweg aneinander, und alle führen die gleiche, synchronisierte Choreographie auf – auf 16-mm-Film, auf VHS und so weiter. Gleichzeitig entsteht ein Stroboskop-Effekt, und der Ton wird extrem laut. Der Zuschauer ist quasi gefangen in diesem immersiven, hypnotischen Musikvideo-Moment, aus dem es kein Entkommen gibt. Und dann bricht es. Es gibt einen tatsächlichen Bruch in den Medien – von der altmodischen Ästhetik hin zu einem hochmodernen, digitalen Format.

Warum hast Du dich für einen so expliziten Bruch im Medium selbst entschieden?
Es ist mein Versuch, diesen transzendentalen Moment zu visualisieren – die Transformation von einer Realität in die nächste.

Gibt es eine Droge oder eine Fluchtform, die Dir immer noch mysteriös erscheint? Etwas, dem Du kreativ noch nicht nachgegangen bist, zu dem Du dich aber hingezogen fühlst?
Ich habe das Gefühl, schon einige davon ausprobiert zu haben! Aber natürlich beobachte ich ständig, wie Menschen kathartischen Verhaltensweisen nachgehen – sowohl aktuell als auch durch historische Forschung. Ich lerne ständig dazu, und es ist immer wieder faszinierend. Vor etwa zwölf Jahren kam ich an einen Punkt, an dem ich begann, durch diese Ansammlung von Informationen meine eigene Art kathartischer Verhaltensweise zu entwickeln. Alchemistische Formen, bei denen vielleicht somatische Yoga-Übungen mit Headbanging kombiniert werden, während man sich eine synthetische Nanotechnologie spritzt, die die Glaubensrezeptoren im Gehirn öffnen. Und diese werden immer mit fiktiven Erzählungen verknüpft, die die Ideologien und Glaubenssysteme der Beteiligten darlegen und erklären, wie und warum sich dieses Verhalten entwickelt hat. Worauf bezieht sich das Ganze, oder was passiert in der Welt, das dazu führt, dass sich etwas so entwickelt? Ich bin von so vielen Bereichen dieser Aktivitäten im Laufe der Geschichte beeinflusst worden, versuche jedoch immer, durch das Pastiche etwas Einzigartiges und Eigenständiges zu schaffen.

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Interview: Amelie Varzi
Fotos: Kristin Loschert

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