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Nikita Kadan, Kiew

In the Studio

»Wenn ich etwas aus der Vergangenheit nutze, geht es um die Gegenwart.«

Vergangenheit und Gegenwart prallen in Nikita Kadans Arbeiten aufeinander. Seine Arbeiten spiegeln historische Paradoxe und Konflikte kollektiver Erinnerungen und Traumata in der Ukraine wider, als Antwort auf den aktuellen Krieg mit Russland. Kadan wurde 1982 geboren und war Teil des Revolutionary Experimental Space (R.E.P.) und Mitbegründer der aktivistischen Gruppe Hudrada; er arbeitet mit Architekt*innen, Soziolog*innen, und Menschenrechtsaktivist*innen. Heute ist er auch als Solokünstler präsent, der unterschiedliche Medien wie Zeichnung, Malerei, Skulptur und Installation nützt. Kadans Manipulation von Denkmälern und Archivmaterial hinterfragt die Möglichkeit neutraler, objektiver Berichterstattung und lenkt die Aufmerksamt eines internationalen Publikums auf die Gräueltaten und den Faschismus rund um seine Heimatstadt Kiew. 

Nikita, was waren deine künstlerischen Anfänge?
Das ist schwierig zu sagen, wenn du an einem Ort beginnst, an dem es kein institutionalisiertes System gibt. Mein erster Knackpunkt kam, als ich vierzehn oder fünfzehn war. Ich ging in die Schulbibliothek, um mir Bücher über Kunstgeschichte zu leihen. Das war in den 90er Jahren in Kiew, wo praktisch nichts über internationale Kunst publiziert wurde. Es gab nicht diese großen, schönen Hochglanz-Kunstbücher. Vor allem gab es nichts über die Moderne oder die zeitgenössische Kunst. Aber mir fiel ein Buch in die Hand, dass in der UDSSR in den frühen 80er Jahren herausgegeben worden war, mit dem Titel „Moderne“. Es war eine sowjetische Abhandlung über Kunst, eine stark ideologisch geprägte, marxistische Kritik an der modernen westlichen Kunst. Es fing mit Kunstschaffenden wie Marcel Duchamp an und endete mit der Konzeptkunst. Und ich hatte plötzlich das Gefühl, dass es genau das sei, was ich machen wollte. Ich wollte Künstler werden, wenn auch nicht im traditionellen Sinn des Wortes. Ein zweiter Knackpunkt kam 2004, als ich Kunst an der Kunstakademie in Kiew studierte, einer sehr konservativen Akademie mit einer sowjetisch geprägten Art des Unterrichts. Es fanden damals massive Proteste gegen die gefälschten Wahlen am Unabhängigkeitsplatz statt. Ich schloss mich mit ein paar Freunden an, und wir stellten auf der Straße politische Poster aus; sie glichen riesigen expressiven Bilder und waren auf billigen Stoff gemalt. Der Direktor des Soros Zentrums für zeitgenössische Kunst bot uns dann an, sein Zentrum als Arbeitsplatz zu nutzen, und wir organisierten daraufhin eine Schau mit diesen Arbeiten, die wie ein offenes Atelier ablief. So schufen wir völlig neue Werke, und wurden plötzlich als junge, politisch engagierte Künstler wahrgenommen. Einige unserer Arbeiten wurden auch im Ausland gezeigt; damit waren wir in diesem „professionellen Kunstsystem“ gelandet. Und doch halte ich mich nach wie vor für eine örtlich sehr verwurzelte Person mit einer stark lokalen Erfahrung. 

Welche Auswirkung hat diese lokale Erfahrung auf dein Werk?
Ich lebe in Kiew; letzte Nacht gab es eine schwere Raketen- und Drohnenattacke. Ich war schlaftrunken und hörte eine Explosion, wachte aber nicht auf. Am Morgen las ich dann, wie viele Menschen getötet und verletzt worden waren, und als ich meinen Kaffee trank, wusste ich genau, dass es da noch Menschen gibt, unter Schutt vergraben, nur eine Stunde Fußweg von meinem Haus entfernt; manche werden gerettet und manche werden sterben. Das ist zu einer täglichen Routine geworden. Ich habe mich daran gewöhnt, unter diesen Bedingungen zu arbeiten. Ich bin nicht abgebrüht, aber ich habe das Fühlen irgendwie „verschoben“. Wir werden sie morgen betrauern. Wir werden uns selbst vielleicht schon morgen betrauern. 

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Wie hat sich deine Kunst dadurch verändert?
Mein Weg begann mit politischer Kunst. 2009-2010 schuf ich Procedure Room, eine Arbeit über Polizeifolter in der Ukraine. Als 2014 die Krim annektiert wurde und der Krieg im Donbass begann, gab es also schon Werke von mir, in denen es um traumatische Erlebnisse der Gesellschaft ging, um kollektiven Schmerz. Nicht viel hatte sich verändert, als der Krieg dann 2022 in meine Nähe kam. Meine Arbeiten, die bereits offen politisch waren, bekamen 2014 eine zusätzliche historiografische Dimension. Ich begann, mit Bildern aus der Vergangenheit zu arbeiten. In diesem Sinn wende ich mich an ein nicht existierendes, utopisches, universalistisches und kritisches historisches Museum. Ein Museum, das nicht von einer nationalen Geschichtsauffassung abhängig ist und sich nicht über eine nationalistische Ideologie definiert. Es ist ein imaginäres Museum. Doch jetzt verwandelte sich dieses Museum in ein Gericht, und der Prozess der Geschichtsschreibung ist zu einem Gerichtsverfahren geworden.

Wie hat es sich vom Inhalt her verändert?
Ich bin es gewohnt, mit Zonen sozialer Verwundbarkeit, mit Themen des Konflikts und Kampfes zu arbeiten. Vor 2014 ging es um den Krieg des Staates gegen seine eigenen Angehörigen. Oder den Krieg des späten Kapitalismus gegen die Reste des Sozialstaates. Aber jetzt gibt es einen äußeren Feind, das faschistische russische Regime. Und eine der großen offenen Fragen für ukrainische Kunstscahffende ist, was wir nun mit interner Kritik anfangen sollen. Fühlt es sich nicht so an, als würde man das Opfer in einem Moment der Schwäche bekritteln? Oder hat das Opfer das Recht, sich selbst zu kritisieren? Aber was bedeutet diese Kritik wiederum in den Augen der anderen? Ist es „Kritik as usual“ oder doch etwas anderes?

Wie beziehst du dich dabei auf Geschichte?
Einerseits sind Erzählungen aus Geschichtsbüchern so nahe dem, was heute passiert; und andererseits passieren jetzt Dinge, die morgen in den Geschichtsbüchern stehen werden. Aber wenn Russland gewinnt, wird die Geschichte neu geschrieben werden. Und wenn dieser globale extreme Rechtsruck den politischen Diskurs dominiert, wird es ebenfalls eine andere Geschichtsschreibung geben. „Alternative Fakten“. Wie Geschichte in Zukunft geschrieben wird, liegt jetzt an uns. Vor kurzem wurde eine der brillantesten ukrainischen Künstlerinnen der jungen Generation, Margaryta Polovinko, an der Front getötet. Ich war bei ihrem Begräbnis. Sie ist bereits Teil der ukrainischen Geschichte. Es gibt diese Ununterscheidbarkeit zwischen Geschichte und Gegenwart. Ich arbeite mit historischen Dokumenten und Gedenkpraktiken. Ich denke an die Kämpfe rund um Bilder, wie die Fotografien aus dem Jahr 1943 von zivilen Opfern in Volhynia in der westlichen Ukraine, als es eine ethnische Säuberung der polnischen Bevölkerung durch Ukrainer gab. Und danach den Massenmord von ukrainischen Zivilisten durch die Polen als Rache. Über diese Fotos streitet man immer noch; denn wer wird da gezeigt - polnische oder ukrainische Opfer? Wer ist das Opfer? Wer der Täter? Diese Fotos dokumentieren nicht „nur eine Geschichte“, was neutral wäre. Sie sind Teil des Kampfes heute. Man kann sich also die Intensität des Streits um die Deutungshoheit von Bildern oder geschichtlichen Dokumenten vorstellen, wenn es um die Ukraine und Russland geht. Alles ist ein Schlachtfeld. Das Archiv ist ein Schlachtfeld. Historische Museen sind ein Schlachtfeld. Sie sind direkt mit den wirklichen Schlachtfeldern verbunden, auf denen Menschen jetzt gerade sterben. Dasselbe gilt für Denkmäler und den öffentlichen Raum. Im Westen diskutiert man das Entfernen von Denkmälern durch aktivistische Kampagnen und ähnliches. Aber wenn in der Ukraine ein Denkmal nicht in die veränderte politische Agenda passt, wird es umgehend zerstört. 

Wie bringst du deine Kritik über deine verschiedenen künstlerischen Medien ein?
Ich benütze sowohl sogenannte “traditionelle“ als auch „neue“ Medien. Ich verwende oft figurative Kohlezeichnungen - vor allem in Verbindung mit schwarz-weißer Archivfotografie. Ich nutze Ready Mades, immer in Beziehung zu dem jeweiligen politischen Kontext, aus dem sie stammen. Ich sehe Archivmaterial als Teil des derzeitigen politischen Ringens und dessen Debatten. Auch wenn ich also etwas aus der Vergangenheit nutze, geht es um die Gegenwart. Es geht um die Unmöglichkeit, etwas in einer neutralen und distanzierten Art zu verwenden. 

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Sind deine Werke Auftragsarbeiten?
Sie sind oft ortsspezifisch. Während des Krieges in Europa denke ich an den Kontext, den lokalen Kontext, und dessen Beziehung zur ukrainischen Situation. Es geht immer darum, welcher Teil der ukrainischen Erfahrung woanders stattfinden könnte, und was das verändern würde. Was sind etwa die Gemeinsamkeiten zwischen der ukrainischen Erfahrung und diesem Ort hier? Ab Mai wird im MUMOK die zweite Version eines Werkes zu sehen sein, das ich für die Kiew Biennale schuf, von der ein Teil in Wien stattfand. Damals wurde ich dazu eingeladen, eine Arbeit in Beziehung zu dem kontroversiellen Karl Lueger Denkmal in Wien zu machen, aber letztlich wurde meine Arbeit in dieser Biennale Ausstellung gezeigt, und nicht auf dem Platz, für den es eigentlich vorgesehen war. Mich interessierten dabei ideologische Symbole, ihre Präsenz im öffentlichen Raum über verschiedene historische Epochen hinweg und die Konsequenzen daraus, wenn sich die Wahrnehmung verändert. Symbole erhalten oder entfernen. Denkmäler als Teil des kulturellen Erbes zu schützen, oder sie bestimmte Werte verteidigen lassen. Was passiert, wenn diese Werte plötzlich „auf der falschen Seite der Geschichte“ stehen? Ich fotografierte ein sowjetisches Denkmal in Hostomel, ein Denkmal des zweiten Weltkriegs, das von den Russen stark beschädigt worden war. Dabei hatten doch die Russen behauptet, dass sie gekommen wären, um genau diese Art an Denkmälern vor ukrainischen Nationalisten zu schützen. Um die „gemeinsame geschichtliche Erinnerung“ der Russen und Ukrainer zu sichern. Gemäß der russischen Propaganda wurden solche Denkmäler in der Ukraine angeblich zerstört oder abgebaut. In Wahrheit stand dieses Denkmal einfach in der Mitte eines ukrainischen Ortes und Menschen legten Blumen davor nieder und achteten es. Aber paradoxerweise werden nach der Invasion genau solche Denkmäler aus dem Zweiten Weltkrieg in der Ukraine offiziell zerstört, weil sie inzwischen als pro-russische Symbole gelten. Doch – ein weiteres Paradox – scheint man gerade dieses Denkmal stehen zu lassen, weil es Spuren russischer Gewalt und russischer Verbrechen trägt. Wenn das faschistische Regime Putins behauptet, in der Ukraine gegen den Faschismus zu kämpfen, mag das absurd erscheinen, aber es hat stark dazu beigetragen, die russische militärische Aggression in den Augen vieler Westler reinzuwaschen. Extreme Gewalt geht Hand in Hand mit einer extrem wandelbaren Rhetorik.

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Wie wichtig ist Zusammenarbeit für dich? Oder arbeitest du meistens alleine?
Ich arbeite jetzt meistens alleine, bin aber immer wieder im Austausch mit anderen Kunstschaffenden und Nicht-Kunstschaffenden. Ich begann als Mitglied von R.E.P., und habe Erfahrung im gemeinschaftlichen Kuratieren durch Hudrada gesammelt. Ich habe mit Schriftsteller*innen, Architekt*innen und Historiker*innen zusammengearbeitet. Früher habe ich unterschiedliche künstlerische Kollaborationen initiiert, doch jetzt wandle ich mich eher in einen einsamen Wolf, durch meine persönliche Erfahrung des Überlebens in der Ukraine.

Wie profitierst du davon?
Manchmal ist es besser, Verantwortung nicht zu teilen, sondern einfach selbst zu übernehmen. Es birgt ein symbolisches Risiko, das sich in ein praktisches, materielles Risiko verwandelt. Risiken können auch von Nutzen sein. Je älter ich werde, desto intuitiver denke ich, und manches im kreativen Prozess ist mit anderen schwierig zu teilen. Wenn man jünger ist, ist man viel aufgeschlossener. Aber sag niemals nie, vielleicht gibt es in der Zukunft wieder Kollaborationen. 

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Was möchtest du mit deiner Kunst bewirken, den Menschen mitgeben?
Ich bin es gewohnt, eine Diskrepanz zwischen dem, was ich tatsächlich tue, und der Wahrnehmung anderer Menschen zu sehen. Während ich arbeite, überlege ich mir nicht, an wen sich das Werk wenden soll. Künstler*innen wenden sich an ein unterschiedliches Publikum. Wenn ein Kunstwerk in der Zukunft bestehen soll, fragen wir uns, wie es einmal gesehen werden wird, welche Werte die Menschen haben werden, welche Sprache sie sprechen werden, wie sie aussehen werden. Ich weiß es nicht. Ich möchte in keiner „Zielgruppe“ sein, sondern eher ein „Zeuge der Kunst“. Ich zeige Kriegserfahrungen an friedlichen Orten, um Menschen die Fragilität der Grenze zwischen Krieg und Frieden fühlen zu lassen. 

Wie war dein Arbeitsprozess während des Krieges?
Während des Krieges hier zu arbeiten, am Ort des Krieges, und immer noch in dieser Art von post-konzeptuellen Kunstpraxis, die eine gewisse Distanz erfordert, ist immer ein Paradox. Dringlichkeit lässt keine Distanz aufkommen. Und doch versuche ich, diese instabilen Konstellationen von dringlichen und fernen Elementen zu schaffen. Abgesehen vom öffentlichen Teil gibt es viel weniger sichtbare Dinge hinter der Repräsentation ukrainischer Kunst – wie die Tatsache, dass ukrainischen Männern das Reisen untersagt ist oder ihre kurzfristigen Reisen streng vom Staat kontrolliert werden. Wenn Künstler in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt sind, haben sie nicht dieselben Möglichkeiten wie ihre internationalen Kollegen, stellen aber immer noch mit ihnen gemeinsam aus. Krieg hat seine eigene Materialität, er schafft Grenzen, die jene Menschen nicht sehen, die außerhalb davon leben. All das hat einen Einfluss auf die Kunst. Und doch musst du deine Arbeit so intensiv wie möglich machen. Du gibst dein Allerbestes. Aber wenn du es unter den vorherrschenden materiellen Bedingungen machen musst, kannst du seine Schwerkraft nie vergessen. 

Interview: Lillian Crawford
Fotos: Olgiver Twist

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