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Adrian Villar Rojas, Rosario, Argentinien

In the Studio

Photo: Panos Kokkinias

»Die einzige Skulptur, die mich interessiert, ist der Mensch.«

Es ist verlockend, Adrian Villar Rojas fälschlicherweise für ein bequemes Aushängeschild der zeitgenössischen Kunst zu halten. Die unermüdliche Dynamik, mit der er seine oft äußerst fotogenen Projekte von gewaltigem Ausmaß realisiert, sein geschickter Einsatz popkultureller und historischer Codes und sein jugendliches Aussehen sorgen für großartige Medieninhalte. Dennoch, bloß diesen oberflächlichen Eigenschaften Beachtung zu schenken, hieße, die reichhaltige philosophische Architektur zu vernachlässigen, auf der der argentinische Künstler seine Arbeit aufgebaut hat. In unserem Gespräch gibt er einen Einblick in die wesentlichen Grundlagen seiner Ideen.

Normalerweise treffen wir Künstlerinnen und Künstler in ihren Ateliers, aber mit dir ist das nicht so einfach. Deine künstlerische Praxis kommt ohne Atelier aus. Wohin hat dich deine umherziehende Form des Arbeitens in letzter Zeit geführt?
Meine allgemeine Bewegungslogik ging von Amerika und Westeuropa nach Osteuropa, den Mittleren Osten, Asien und Ozeanien. Für mich ist das ein Prozess, mich selbst als historische Subjektivität zu dekonstruieren. Ich komme aus einem Land mit nur zweihundert Jahren unabhängiger Geschichte, das von den liberal-weißen europäischen Eliten aus Buenos Aires des 19. Jahrhunderts biopolitisch aufgebaut wurde, die das Land mit aus rassistischen Gründen ausgewählten westlichen Migranten bevölkert und die eingeborene Bevölkerung vernichtet haben. Dies führte zu einer Homogenisierung des argentinischen Volkes, das die Idee vertritt, alle weißen Europäer leben weit weg von den Häusern unserer Urgroßeltern, in Spanien, Italien, Polen, Frankreich und so weiter. Diese Wurzeln sind die mythologische Grundlage unserer nationalen Identität. Reisen ist für mich ein dekonstruktives Werkzeug, um zu verstehen, wie weit die Realität von dieser selbsterzeugten Wahrnehmung entfernt ist.

Was hat dich dazu geführt, diesen nomadischen Lebensstil zu wählen, anstatt dich in einem Atelier in deiner Heimatstadt Rosario, oder einer der internationalen Kunsthauptstädten wie New York oder Berlin niederzulassen?
Ich muss so viel wie möglich mit der Geografie dieses Planeten in Kontakt sein, um die Information direkt aufnehmen zu können. Du kannst die “Welt” nicht von einem einzigen Ort, wie etwa New York oder Berlin, aus erfahren – sie fühlen, berühren, an sie denken. Jeder Kontext, in den ich eingeladen werde, erfordert die Aufnahme dieser ungewohnten Realität, um sie zu verstehen und mit ihr zu interagieren. Wir können unsere Praxis weder weiterhin als eine Ware ansehen, die für jeden Ort und jede Zeit gleichermaßen gültig ist, noch als universelle Subjektivität, die mit ihrer Wahrheit zu speziell errichteten Plattformen herabtritt –– etwa Galerien, Institutionen, Stiftungen, etc. –, die überall in der Welt für unsere Bequemlichkeit und Selbstbestätigung eingerichtet wurden. Meine Antwort auf diese Pattsituation ist ein voller Einsatz für soziale, politische, geografische, kulturelle und sogar geologische Ökosysteme, wobei ich so viel Risiko wie möglich eingehe, um keine Ware zu erzeugen, sondern einen Prozess, der meist ortspezifisch als unwiederbringbare Erfahrung bleibt. Obwohl Materie involviert ist, neige ich dazu, die Produktion von Dingen als ein Nebenprodukt dieser hauptsächlich menschlich bestimmten Prozesse zu sehen.

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Planetarium, 2015, Sharjah Biennial 12, Kalba, Sharjah, Vereinigte Arabische Emirate
Courtesy der Künstler, Marian Goodman Gallery, New York/Paris/London und kurimanzutto, Mexico City
Foto: Jörg Baumann

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Planetarium, 2015, Sharjah Biennial 12, Kalba, Sharjah, Vereinigte Arabische Emirate
Courtesy der Künstler, Marian Goodman Gallery, New York/Paris/London und kurimanzutto, Mexico City
Foto: Jörg Baumann

An welchem Punkt war dir klar, dass du Künstler werden wolltest? 1980, dem Jahr in dem ich geboren wurde – meine Mutter studierte Medizin und mein Vater Psychologie. Noch bevor ich ein Jahr alt war, setzte sie mich regelmäßig mit Stiften und Papier, um darauf zu kritzeln, neben sich, während sie versuchte, Bücher der Pharmakologie oder der Physiologie auswendig zu lernen. Scheinbar war ich ein ziemlich entspanntes Baby und genoss diese Stimmung des “Neben-Mama-Kritzelns”, sodass ich – ihr zufolge – mehrere Stunden am Tag damit verbrachte, ruhig und sogar still zu zeichnen.

Wie hast du später dein Kunststudium und deinen Eintritt in die Kunstwelt wahrgenommen?
Seit meinem ersten Studienjahr der bildenden Kunst an der Rosario National University, einer kostenlosen, öffentlichen Universität in meiner Heimatstadt, wusste ich, dass jene sogenannte “zeitgenössische Kunst”, die uns beigebracht wurde, nicht ewig währen würde – und auch nicht sollte. Das war eine sehr frühe und intuitive Sorge. Mit der Zeit wurde mir klar, dass die einzige Skulptur, die mich wirklich interessierte, der Mensch war. Nichts bleibt bestehen, also müssen wir die Existenz von ihrem radikalen Ende aus betrachten. Meine künstlerische Praxis begann, sich der Idee des Verschwindens zuzuwenden. Ich versuchte, die Dinge so zu sehen, als wäre ich ein Fremdwesen, das am Ende einer symbolischen Produktion sitzt: ein ontologisches Wesen, dass andere Wesen mit kompletter Unparteilichkeit und emotionaler Distanz erfassen würde und es sich selbst zur Aufgabe macht, die Welt aus dieser unschuldigen Tabula Rasa und einer gleichzeitig abscheulichen Perspektive ausgehend neu zu schreiben. Indem ich diese epistemisch-fiktionale Rolle spielte, machte ich selbstmörderische und diachronische Objekte: Dinge, die von Zeit und nicht-menschlichem Handeln geformt, transformiert oder vernichtet werden. Das Verschwinden des “skulpturalen” Produktes machte die Schnittstelle offensichtlich: Die Ton-plus-Zement-Gleichung – vorherrschend in meiner Praxis von 2008 bis 2013 –, wo der Ton das Leben vor den Menschen ist und Zement die Spur, die sie am Planeten hinterlassen werden, nachdem sie entschwunden sind. Ich habe gemerkt, dass “das Künstlerische” in dieser umfassenden Karte wie zufällig passiert.

Kannst du ein paar der Themen erläutern, die du in deiner Arbeit behandelst?
Ich denke, dass die zentralen Probleme meiner künstlerischen Praxis bereits bei Incendio, meiner ersten Einzelausstellung, die 2004 in Buenos Aires stattgefunden hat, präsent waren: die Idee der Zusammenarbeit, das Problem der Repräsentation des Lebens vor und nach dem Menschen, die Spaltung von Zeit in eine weit entfernte Vergangenheit und ebenso weit entfernte Zukunft, das Ende der Welt als erkenntnistheoretische Fiktion, die Zugabe von Repräsentationsschichten zu bereits in der menschlichen Kultur bestehenden Repräsentationen, Metasprache, das Problem der Disziplinen und des Kunsthandwerks und meiner eigenen Rolle als Regisseur oder Montage-Redakteur. Zu diesen Themen sollte ich noch hinzufügen: eine Beschäftigung mit Technologie als Ersatz, Unterstützung und Ergänzung des Menschen; mit der Beziehung von Menschen mit dem was sie “Natur” nennen; mit der Politik innerhalb von Kunstinstitutionen, um stabilisierte Bedeutungssysteme zu dekonstruieren; und mit der Ware (“künstlerische Objekte”, die bereit stehen, um demontiert und weltweit versandt zu werden) als die normierte, kapitolisch-unterwürfige Form der Kunstproduktion im einundzwanzigsten Jahrhundert.

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Foto: Mario Caporali

Du meintest, deine Arbeit benötige kein festes Atelier, da sie sich immer spezifisch für die Umgebung entwickelt, in der sie gezeigt wird. Das erhöht die Bedeutung dieses Ortes. Wie suchst und findest du so einen Platz?
Das “Erkunden” ist eine lange erste Phase in all meinen Projekten. Die Anzahl der Besuche, die ich absolviere, bevor ich mich mit meinem Team irgendwo niederlasse, hängt von der Komplexität des Standortes und den Ideen ab, mit denen wir zu tun haben. Dieser Kommunikations- und Austauschprozess mit dem Umfeld erlaubt es mir, einen Standort innerhalb des Standortes auszusuchen. Ich ziele darauf ab, mit einem Grad an Einzigartigkeit arbeiten, der unmöglich zu erreichen wäre, ohne diese Beziehung mit jeder institutionellen, kulturellen, sozialen und geografischen Situation aufzubauen.

Mit deiner Serie unter dem Oberbegriff Theater of Disappearance hast du eine Show geschaffen, die von Europa bis in die USA reichte und Ausstellungen im Metropolitan Museum of Art, New York, Kunsthaus Bregenz, NEON, Athen, und Geffen Contemporary im MOCA, Los Angeles umfasste. Welches Narrativ verband diese Ausstellungen?
Für mich ist The Theater of Disappearance eine Art dekonstruktive Hommage an die westliche Kunst. Als ob ich sie von Griechenland bis in die USA betrauern würde. Ich versuchte, in Metaphern zu arbeiten und einige Augenblicke der machtbasierten Gestaltung ihrer eigenen Genealogie, Geschichte und ihrem traditionellen Erbe sogar darzustellen. Die Installationen des Theater of Disappearance erschließen – wie viele deiner Ausstellungen – ein vielseitiges Netzwerk von Referenzen, die von der Natur zu Archäologie, Kunstgeschichte und Popkultur reichen.

Was fasziniert dich an diesen wesentlichen Einflüssen?
Das breite Referenzspektrum ist mit der erkenntnistheoretischen Fiktion verwandt, die meine Recherchen leitet: der fremde Blick, der mit dem symbolischen Geräusch der Menschheit am Rande der Stille spielt, ohne Wertmaßstäbe, sondern nur mit der Verpflichtung zu einem tiefen Zustand der Loslösung. Um 2007 herum, nach meinen ersten Experimenten mit dieser Art von radikalen Andersartigkeit zwischen Incendio und Pieces of the People We Love (Buenos Aires, 2007), traf ich die ontologische Entscheidung, mich aus diesem Zeitbereich zu verbannen, weil ich das Gefühl hatte, dass es im Bezug zur Kunst nichts mehr zu denken gab. Folgerichtig kam ich zu dem Schluss: da die Kunst ihren Zyklus vollendet hat, müssen wir sie aus der Perspektive der Nach-Vollendung betrachten. Wenn wir in einer Art von “Duchamp'schen Schwebezustand” stecken, Kommentare zu Kommentaren hinzufügen und Lärm zu Lärm, warum gehen wir nicht dorthin, als es eine große Stille auf Erden gab und betrauern die Kunst, oder betrauern sogar die symbolische Produktion an sich? Daher kann jede Referenz in diesem Handlungsablauf der radikalen Entfremdung eingeschrieben werden.

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The Theater of Disappearance, 2017, Kunsthaus Bregenz
Courtesy der Künstler, Marian Goodman Gallery, New York/Paris/London und kurimanzutto, Mexico City
Foto: Jörg Baumann

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The Theater of Disappearance, 2017, Kunsthaus Bregenz
Courtesy der Künstler, Marian Goodman Gallery, New York/Paris/London und kurimanzutto, Mexico City
Foto: Jörg Baumann

The Theater of Disappearance, 2017, The Roof Garden Commission at The Metropolitan Museum of Art, New York
Courtesy der Künstler, Marian Goodman Gallery, New York/Paris/London und kurimanzutto, Mexico City
Foto: Jörg Baumann

The Theater of Disappearance, 2017, The Roof Garden Commission at The Metropolitan Museum of Art, New York
Courtesy der Künstler, Marian Goodman Gallery, New York/Paris/London und kurimanzutto, Mexico City
Foto: Jörg Baumann

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The Theater of Disappearance, 2017
NEON Foundation at Athens National Observatory (NOA)
Courtesy der Künstler und NEON Foundation
Foto: Jörg Baumann

Deine Werke und ihr Platzanspruch sind oft gigantisch. Welche dramaturgische Rolle spielen große Dimensionen in deiner Arbeit? Für mich ist der Maßstab keine poetische Geste, sondern das Instrument, um die Intensität und Komplexität meiner Interaktion mit einem Kontext zu messen, in dem, was ich eine Parasit-Wirt-Beziehung nenne. Er spiegelt auch wider, wie der Parasit und der Wirt mit den Möglichkeiten, Sehnsüchten und Potentialen des jeweils anderen umgehen. Er ist der materielle Ausdruck einer politischen Verhandlung mit allen beteiligten Interessensgruppen.

Die Größe deiner Arbeiten beschränkt die Anzahl jener Leute, die es sich leisten können, sie zu sammeln und auszustellen. Wie beeinflusst dieser Aspekt deine Arbeit?
Es gibt zweifellos ein Paradox in meiner Praxis: Um weiter zu existieren, muss sie irgendwie erhalten werden – und gleichzeitig beinhaltet sie das Verschwinden und die politische Ablehnung der Kommodifizierung, die repräsentiert wird von der kapitolisch-unterwürfigen Kunstform des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Dieses Paradoxon nimmt einen zentralen Punkt in meinem Projekt ein, es ist unvermeidlich und verlangt eine ziemlich raffinierte Fähigkeit, mit dem umzugehen, was ich die Politik der Kunst nenne. Damit meine ich die Fähigkeit, mit verschiedenen Vertretern die Entstehung, Entwicklung und den Fortbestand eines Projekts zu verhandeln, das im Grunde darauf vorprogrammiert ist, zugrunde zu gehen, zu mutieren, sich zu ändern, oder – weiter gefasst – die gesamte Logik des Sammelns und der Aufbewahrung von Kunst zu untergraben. Ein großer Teil meiner täglichen Arbeit ist die Gestaltung und Neugestaltung dieser Strategien. Es gibt in dieser Angelegenheit kein Protokoll, dem man folgen könnte und es beinhaltet normalerweise einen anhaltenden Austausch zwischen der erwerbenden Institution und meinem Produktionsbüro. Die Palette der aus meiner Praxis entstehenden Dinge ist weit und offen, was es manchmal schwieriger und manchmal einfacher macht, von der gängigen Logik des Kunstfeldes verarbeitet zu werden.

Könntest du einige Menschen innerhalb und außerhalb der Kunstwelt nennen, die großen Einfluss auf dich ausgeübt haben?
Meine Eltern, in ihrer partnerschaftlichen Art, in der sie ihre Liebe und Familie aufgebaut haben. Mein leiblicher Bruder, Sebastián, Schriftsteller und Theaterregisseur, und meine Lebensschwester, Mariana Telleria, Künstlerin, Freundin und ehemalige Kommilitonin. Sie alle sind entscheidende Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in meinen Projekten und meine größte Inspiration.

Wir haben bereits über die Serie spektakulärer Ausstellungen gesprochen, die du letztes Jahr hattest. Was sind deine Pläne für dieses Jahr und wie denkst du, dass sich deine Kunst in der nächsten Zukunft entwickeln wird?
Ich arbeite gerade an einer breiten Reihe von Veröffentlichungen, die einen Langzeit-Überblick über meinen bisherigen Weg geben. Wenn man bedenkt, dass ich aus einem peripheren Land komme, das keine Kulturpolitik hat oder haben wird, um meine Arbeit als systematischen Korpus zu bewahren, und dass neunzig Prozent dessen, was ich geschaffen habe, nicht mehr existiert, wie sollte ich eine Retrospektive machen, ohne selbst die Schlüsselmomente meiner Arbeit und meines Lebens festzuhalten? Über den Rest spreche ich nie.

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The Most Beautiful of All Mothers, 2015 14th Istanbul Biennial 
Courtesy der Künstler, Marian Goodman Gallery, New York/Paris/London und kurimanzutto, Mexico City
Foto: Jörg Baumann

The Most Beautiful of All Mothers, 2015 14th Istanbul Biennial  Courtesy the artist, Marian Goodman Gallery, New York/Paris/London und kurimanzutto, Mexico City Foto: Jörg Baumann

The Most Beautiful of All Mothers, 2015 14th Istanbul Biennial  Courtesy the artist, Marian Goodman Gallery, New York/Paris/London und kurimanzutto, Mexico City Foto: Jörg Baumann

Interview: Gabriel Roland

Links:
Kurimanzutto Gallery

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